Täglicher Anzeiger für Thun und das Berner Oberland, Band 14, Nummer 217, 13. September 1890 IIIF issue linkTessin. [ARTICLE]

Tessin.

Man hätte glauben könne», die Zeit der gewaltsamen Staatsumwälzungen, die Zeit der „Putsche", sei unter dem Regimente der neuen Bundesverfassung in der schweizerischen Eidgenossenschaft vorüber. Doch man hat sich geirrt, man hatte die Rechnung ohne die Tessiner gemacht, ohne das heiße, ungestüme Blut der Liberalen, ohne die frivole Mißachtung von Verfassung und' Recht durch ein römisch-ultramontanes Regiment. Daß aber eine wirkliche Staatsumwälzung in Bellinzona stättgefunden hat, darüber kann nach den Telegrammen, nach den Bulletins, nach den Berichten, und nach

dem Abmarsch der Truppen rc. kein Zweifel mehr sein.

Der Bundesrath in angenehmster Lage, einzelne Mitglieder, irren wir nicht, noch in den Sommerserien oder nicht weit davon; der Kriegsminister auf stattlichem Pferde die Front der 30,000 Eidgenossen abreitend oder mit den Leitern des Truppenzusammenzuges noch beim Mittagessen im friedlichen Gespräche begriffen, der Minister des Innern wohl in der Urschweiz, in Schwyz, um eine eminent friedliche Feier, die eidgenössische Bundcsfeier für 1891 vorzubereiten, der Minister der Justiz noch in schöner Erinnerung an die Genüsse und Errungenschaften des Juristentages in Zürich u. s. w. u. s. w. Da klopfts in späterer Nachmittagsstunde an der mittler» Pforte des Bundesrathhauses, die allein jetzt noch geöffnet ist und die Nachricht lautet: „In Tessin wurde die Regierung gesprengt!" Sofortige telegraphische Anfragen an die Regierung kamen als unbestellbar mit der Bemerkung zurück, daß in Tessin keine Regierung mehr existire. Spätere Berichte sagten, daß in Bellinzona das Zeughaus und das Regierungsgebäude von Aufständischen besetzt und die Regierungsräthe theilweise auf der Flucht begriffen, theilweise verhaftet worden und daß Staatsrath Rossi sogar durch einen Revolverschuß getödtet worden sei. In der rasch angeordneteu Sitzung des Bundesrathes beschloß der Aundesrath in Ausführung der ihm durch die Bundesverfassung übertragenen Kompetenzen die sofortige bewaffnete Intervention. Hr. Oberstdivisionär Künzli wurde zum eidgenössischen Kommissär ernannt und ist nach dem Tessin abgereist. Von den zwei Füsilierbatailloncn der H Armeedivision, Nr. 39 (Major Andrcae) und Nr. 38 (Major Geiser), welche vom 9 bis 23. September in Bern einen Wiederholungskurs bestehen sollten, wurde das erstere noch in der Nacht vom 11. auf den 12. September ausgerüstet, beeidigt und Morgens 3 Uhr durch Extra-Militärzüge nach Tessin spedirt. Das zweite Bataillon, zuerst auf Piquet gestellt, leistete ebenfalls den Fahneneid und hat auch bereits den Marsch nach Tessin angetreten. Neuere Depeschen meldeten, daß sich in Bellinzona eine provisorische Regierung gebildet habe. Dieselbe bestehe aus folgenden Mitgliedern: Simen,. Redaktor, Bruni, Advokat, Lepori, Ingenieur, Battaglini und Perrucchi. Nähere, eingehende Berichte sind nun abzuwarten, und bis dahin wird man mit dem llrtheil über den ernsten Vorgang noch zurückhalten müssen. Sicher ist einstweilen, daß der ultramontane Staatsrath sich eine Reihe der gewaltthätigsten Maßregeln hat zu schulden kommen lassen, daß die Untersuchung gegen den Staatskassier, welcher so wacker gestohlen, nicht ab Fleck wollte und daß schließlich in Bezug auf die Verfassungsrevision eine grobe. Verfassungsverletzung statlgefunden hat. Es wird jetzt wohl irgendwie Luft geben, hoffentlich auch in Bern. Außerordentlich interessant ist es, wie das Haupt der Tessiner Pfaffenpartei, der feine Pedrazzini, als Professor aus dem Wege gegangen ist. Er wird gemerkt haben, daß cs in der Fechtschule nicht mehr ganz gut riecht. Die beiden nach dem Tessin beorderten Bataillone sind unter das Kommando des Hrn. Oberst!. Grieb von Burgdorf gestellt. Aus Lugano meldete man unterm 11. Sept.: Das liberale Tessinervolk, der endlosen Willkürherrschaft müde, bemächtigte sich heute Nachmittags nach 2 Uhr ohne Blutvergießen des Negierungsgebäudes und Zeughauses in Bellinzona, sowie sämmtlicher Statthaltereien des Kantons. Die Negierung und einige Häupter der klerikalen Partei (alt Ständerath Reali, Großräthe Volontcrio, Lurati rc.) sind gefangen. Regierungsrath Rossi einzig widersctzte sich mit einem Revolver. Er wurde erschossen. Sämmtliche Polizei ist entwaffnet. Als provisorische Negierung wurde vom Volke proklamirt: Simen, Präsident; A. Battaglini; Giacomo Lepori; Germano Bruni und Plinio Perucchi. Die Regierung sorgt für Aufrechterhaltung der Ordnung durch Truppenaufgebot.

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