Eidgenössische Zeitung, Nummer 118, 28. April 1856 IIIF issue linkSchlußverhandlung in Locarno. [ARTICLE]

Schlußverhandlung in Locarno.

** Locarno, 25. April. Gestern gingen endlich die VerHandlungen zu Ende und das Gericht beschäftigt fich nun mit der Urtheilsfällung. Es ist noch unsicher, wann die Eröffnung des Urtheils stattfinden werde. Unterdessen schweben wir hier zwischen Furcht und Hoffnung; bald nimmt die eine zu, bald steigt die andere. Man lauscht den Gerüchten, welche jedoch nichts Bestimmtes sagen können, da die Richter schweigen. Dessen ungeachtet wechselt die Stimmung je nach denselben. Von allen Seiten kommen Mittheilungen, was in den höhern Regierungsregionen gesprochen wird und gestern hieß es : ein Mitglied der Regierung habe sich geäußert: eine Verurtheilung werde stattfinden, man möge thun was man wolle. Von der Prämeditation ist keine Rede mehr, obschon die Anklage dieselbe nicht hat fallen lassen. Ein solcher Unfinn saßt nicht bei Männern, welche sich selbst ehren. Rothwehr wird angenommen werden, aber die Frage ist, wird dieselbe unbedingt oder wird eine Überschreitung der Nothwehr angenommen? Der Staatsanwalt Bertoni sagte in seinen Anträgen gegen Mofi: aller Wahrscheinlichkeit nach habe dieser die tödtliche Wunde dem Degiorgi beigebracht. Es liegt nicht der geringste Beweis vor, nicht einmal ein nahes Indizium, wodurch dieß bestätigt würde; allein jedenfalls beweist diese Beschuldigung, daß der Staatsanwalt selbst nicht annimmt, daß der tödtliche Stich (überhaupt ein Stich) von den Brüdern Franzoni, von Rusca oder den Andern versetzt worden sei. Kann unter diesen Umständen aus Seite der letztern eine Überschreitung der Nothwehr angenommen werden, nicht zu vergessen, daß sie selbst, namentlich Albert Franzoni, schwer verletzt waren, schwerer jedenfalls als, mit Ausnahme der tödtlichen Wunde, Degiorgi verletzt war? Kann die That eines Andern, die mit der meinigen keinen Zusammenhang hat, als den der Zufälligkeit und Gleichzeitigkeit, meiner Handlung einen andern Charakter beilegen? Eben deßhalb die Prämeditation, um eine Solidarität zu begründen. So viel begriff die Anklage von Ansang an, daß man die Mißhandelten nicht wohl als Mißhandln bestrafen dürfe, wenn die That eines Andern ihnen nicht auch zugerechnet werden könne. Man wollte die Verurtheilung der Brüder Franzoni; was liegt an Mofi oder den übrigen? Ich fahre in der Berichterstattung fort. Dienstag schloß Conforti seine Verteidigung der Brüder Magoria. Er enthüllte schonungslos daS unlautere Getriebe. Alles beweist, sagte er, die Unschuld der Brüder Magoria; man muß daher den Grund, warum sie in Anklagezustand versetzt wurden, anderswo als in den Akten suchen. Die Brüder Franzoni, obschon einer reichen Familie angehörend, besitzen noch kein Vermögen, da ihre Eltern leben. Man wußte daher, daß man von ihnen nicht sogleich Geld erhalten konnte, um die Kosten des Prozesses und die Entschädigung an die Zivilpartei zu bezahlen. Dasselbe ist mit dem Advokaten Rusca der Fall. Die Brüder Magoria dagegen befitzen ein nicht unbedeutendes, ehrlich und bescheiden erworbenes Vermögen, auf welches man jederzeit greifen kann. Das ist der Grund, warum man dieselben in den Prozeß hineingezogen hat! — Er sagte serner : Dreiundzwanzig Jahre lebe er in der Gerichtspraxis, die größte Zeit davon habe er in einem despotischen Lande (Neapel) zugebracht; dürfe versichern, daß ihm ein so entsetzlicher Prozeß noch nie zu Gesicht gekommen sei. — Am Schlüsse rief er in kühner Apostrophe den Richtern zu: »Haben Sie den Muth, unabhängiger zu sein, und diejenigen, welche jetzt eine Verurtheilung verlangen, werden später die ersten sein, Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn Sie die Ehre des Kantons retten. Ich weiß, es gab zu allen Zeiten schwache Richter, welche die Gerechtigkeit der Popularität und den momentanen Leidenschaften opferten. Aber das haben wir von Ihnen nicht zu befürchten; Sie kennen die Geschichte; Sie sind erhaben

über die Leidenschaften , welche in diesem unglücklichen Prozesse walteten. Wer ein Herz trägt in seinem Busen, wird Ihnen dankbar sein, und wenn Sie heimkehren nach diesen langen und ermüdenden Verhandlungen, so werden Sie, was mehr Werth ist als aller Reichthum, den Frieden des Herzens und die beruhigende Überzeugung, eine gute That begangen zu haben, nach Haufe bringen.« Nach Eonforti sprach Airoldi. Mittwochs den ganzen Tag und Donnerstag bis um 10 Uhr sprach Tecchio. Dieser berühmte Turiner Anwalt, der fich vorzugsweise der Kriminalpraxis widmet, ist ein großer hagrer Mann mit einem tief auf die Brust herabhangendem graulichen Barte; seine Stimme ist klar, überaus kräftig. (Wir hätten ihn gerne in schwarzer Kleidung gesehen.) Der Schluß seines Vortrages war wahrhaft großartig. Wir heben nur einige Punkte seiner Replik hervor. Es ist wahr, sagte er, er habe in seinem ersten Vortrage das Urtheil eines schweizerischen Magistraten hervorgehoben, daß ihm nie ein unwahreres Machwerk zu Geficht gekommen sei als die Anklageakte. Er habe dieß gesagt, weil wirklich jeder Unbefangene, der einen Blick in die Akten werfe, diese Uberzeugung gewinnen werde. Der Staatsanwalt (Pasini) habe nun beHäupter, die Anklage gründe sich auf seine Überzeugung, und Achtung vor derselben verlangt. Diese Uberzeugung kenne man aber schon von langem her aus der »Democrazia«, als er noch vor dem Beginne der Untersuchung nach Rache gerufen. Sie gründe sich nicht auf die Akten. Die Richter müßten aber ihr Urtheil aus den Akten und dem Gesetz schöpfen. - Um die Gemüther gegen die Brüder Franzoni aufzuregen, werde ihnen der lächerliche Vorwurf gemacht , sie seien Freunde der Oesterreicher. Wie wenig dieß wahr sei, wisse jedes Kind. Würden übrigens die Franzoni gerade ihn zum Verteidiger angesprochen haben, ihn, den die Oesterreicher verurtheilt und vertrieben? Uebrigens wenn die Oesterreicher ein Unrecht begehen wollen, aus s. g. Staatsrückstchten oder Parteihaß, so rufen sie nicht die ordentlichen Richter, sondern die Kriegsgerichte zu Hülfe. (Dachte er an Nessi?) Man habe die Gerechtigkeit die Grundlage der Königreiche srexvoruw) genannt. Das sei irrig , sie sei die Grundlage der Republiken. Ein großes Reich mit seinen stehenden Heeren erhatte sich selbst ohne Gerechtigkeit, aber eine Republik gehe ohne solche zu Grunde. An diesen Satz knüpfte er dann eine beredte Ansprache an die Richter im Sinne Conforti's. Zum Schlüsse ergriff Nun auch P. Scazziga das Wort, der innigste Freund der Brüder Franzoni und der Anwalt, welcher von Anfang an in diesem traurigen Prozesse die Interessen der Angeklagten besorgte. Er war oft tief ergriffen und seine Rührung theilte sich auch den Anwesenden, selbst den Richtern mit. Ist Einer da unter allen Anwesenden, der im Ernste die Franzoni, Rusca, die übrigen für Mörder hält? rief er und antwortete selbst mit durchdringender Stimme und mit einem festen Blicke gegen die beiden Staatsanwälte: Nein, Nein ! Am Schlüsse seines Vortrags wies er auf die Richter der französischen Revolution hin: die, welche unerschütterlich festhielten an der Gerechtigkeit, seien zwar aus dem Schaffote gefallen , ihre Namen aber in die Säule der Unsterblichkeit, die Namen der Richter dagegen, welche die Gerechtigkeit der Tageslaune opferten, in die Säule der Schande eingegraben worden. Die Kirche, welche sich mit Zuhörern gefüllt hatte, erscholl von einem lauten Bravo. Der Präsident fragte nun noch die Angeklagten, ob sie etwas beizufügen hätten. Die Franzoni und die übrigen erklärten einfach: sie schlössen sich der Verteidigung an und vertrauten auf die Gerechtigkeit. Rusca reichte noch eine Schlußschrift ein, welche noch verlesen würde; dann wurden die Verhandlungen geschlossen. Wenn die Ankläger sprachen, so waren jewetlen höchstens dreißig Zuhörer zugegen; dagegen füllte sich die Kirche, wenn die Verteidiger sprachen. Das Publikum verhielt sich ruhig und würdig; nur am Schlüsse erfolgte das angeführte Bravo. Noch haben wir zu erwähnen, daß Advokat Kurz von Bern an

den Präsidenten das Gesuch stellte, in französischer Spracye vortragen zu dürfen. Im ersten Momente gestattere es ihm der Präsident; nach näherer Prüfung glaubte derselbe jedoch, es vertrage sich dieß nicht mit Gesetz und Hebung, und theilte es dem bernerischen Anwalte aus die freundlichste Weise mit. Dieser erließ darauf ein Schreiben an das Gericht, worin er ihm von seiner Absicht Kenntniß gab und beifügte: Er habe nicht die Anmaßung, eine Gunst zu fordern, welche der Uevung zuwider sei; er begnüge sich, zu erklären, daß er sich der Verteidigung, welche von so vielen ausgezeichneten Rednern vorgetragen worden, gänzlich anschließe. Er sehe zwar den Zweck seiner Hieyerkunft vereitelt; aber er finde seinen Trost m der Hoffnung, einem glücklichen Ausgange dieses Prozesses, welcher in der ganzen Schweiz einen so großen Wiederhall gefunden habe, beiwohnen und mit der Befriedigung heimkehren zu können, zu sehen, daß durch das oberste Gericht des Landes wiederhergestellt sei »die Justiz im Kanton Tessin.« Die Angeklagten stehen in Gottes Hand. Mag er noch größere Prüfungen über sie verhängen, die Ueberzeugung von ihrer Unschuld wird bald allgemein sein; bereits wird sie von mehr als der Hälfte der Bewohner des Kantons Tessin getheilt. Ein Zeichen der Zeit ist, daß während der ganzen Verhandlung ein angesehener, der RegierungsPartei angehörender Mann anwesend war und deßhalb die Aufmerkfamkeit besonders auf sich lenkte. Er wurde durch die Verhandlungen so sehr von der Unschuld der Angeklagten überzeugt, daß er sich offen zu Gunsten der Freisprechung äußerte. Es ist dieß der gewesene Staatsrath Pfiffer-Gagliardi.

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