Bündner Nachrichten, 13. Dezember 1887 IIIF issue linkAnstand [ARTICLE]

Anstand

Zur Fa » ze . Den neuesten Anzeichen nach ist ein FriedenSbruch zwifchen Oesterreich und Rußland nicht zu befürchten . Das Gewitter fcheint fich jetzt mehr über Bulgarien zusammenzuziehen . Hier sei die Gefahr zu fuchen , deshalb müsse die bulgarifche Frage wieder aufgenommen und erledigt weiden . Bulgarien foll also als Blitzableiter für die russischösterreichische Spannung benutzt werden . Immerhin ist das Zutrauen zur Erhaltung des Friedens nicht allgemein . Die englifche « Blätter thun , als wenn sie glaubten , Ruhland rüste zum Kriege . Und ein europäisches Haus , das von Newyork auf nächstes Frühjahr drei Schiffsladungen Petroleum erwartet , gab Weisung , diesen Brennstoff gegen Kriegsgefahr zu versichern . Deutschland . In der Begründung des Gesetzentwurfs über die Aenderung der Weh , Pflicht wird hervorgehoben , daß Deutfchland geographisch den gleichzeitigen Angriffen starker Heere auf zwei Fronten ausgesetzt sei . Einer solchen Bedrohung gegenüber fehle das feste Fundament für die Existenz und die Fortentwicklung Deutschlands , dessen Sicherheit nur von seiner Stärke abhänge . Die letztere müsse eine größere sein als die derzeitige . Das Gesetz

wolle sechs bisher dem Landsturm cmgehörige Jahrgänge für die Zeit großer Gefahr fofort bereitstellen . Die laufenden Ausgaben durch die Vermehrung des Kontrolbestandes und der Bureaufonds würden 150 , 000 Marl voraussichtlich nicht übersteigen . Die einmaligen Kosten betragen etwa 250 , 000 Maik . W . gen der Kosten der Bekleidung , Ausrüstung und Bewaffuung bleibt Weiteres vorbehalten . — Die Getreidezolltommission hat auch in zweiter Lesung die Erhöhung der Getreidezülle abgelehnt . — Aus San Nemo wirb gemeldet , daß nicht nur der Kronprinz felbst , fondern auch die Aerzte die Hoffnung auf eine völlige Genefung hegen . Frankreich . Der Verföhnungsdufel ist fchon vorbei . Die Lage ist unt . r Carnot wie sie unter Orevy war . Man prophezeit schon , daß der Kongreß in wenigen Monaten wiedeium sich versammeln werde , um einen neuen Präsidenten zu wählen . Rochefort rührt wieder die Knegsttommel , ruft nach Boulan » ger unb verlangt zu wissen , was der Präsident der Republik und das neue Ministerium im Falle eines österreichisch-russischen Krieges , in welchem Deutschland zu Oesterreich sich schlagen würde , zu thun gedenken ? Nun kommt auch noch der Unterrock und

möchte gerne das französisch-russische Bündniß zusammennähen . Die Schrisstellerin Iulietle Adam , die Freundin Gambetta s , schlägt nämlich vor , ver » schiedene Gegenstände , welche die Franzosen im Krimkriege eroberten ur . d mit nach Paris nahmen , wieder zurückzugeben . Vernünftigere Stimmen protestiren aber gegen die Zumuthung , daß Frankreich beim Zaren um Freunoschaft und Bündniß betteln gehe . Das Vnrückleste , was in den letzten Tagen vajsirte , find wohl die Schüsse , welche am Samstag in der Kammer auf Jules Ferry abgeben wurden . Ein gewisser Nubertin lieh Fcrry und- « Goblet aus dem Sitzungssaal zu sich bitten . Goblet kam nicht . Als Ferry hinzutrat , feuerte Aubertin drei Revolv erschösse auf denfelben ab . Elne Kugel drang in die rechte Seite über der Brust , die andere in die rechte Seite über ber Weiche , die dritte ging fehl . Der Blutverlust war ziemlich bedeutend , doch sind die Wunden nicht gefährlich . Die Aufregung im Palais Nourbon war mbefchreiblich . Der Verbrecher wurde sofort verhört . Er ist ein Mann von 53 Jahren . Cr gehört zu einer Ge » sellfchaft , die durch das Loos denjenigen bestimmte , der auf Ferry schießm sollte . Das Loos fiel auf Auberlin , tessen wahrer Name Berckheim ist , er foll aus Metz gebürtig fein .

Der Mann wäre von ber entrüsteten Volksmenge , die in dcn Vorsaal drang , fast niedergeschlagen worden . Obwohl 4 Mann ihn beschützten , erhielt er zahlreiche Faustschläge . In den Wandelgängen des Sitzungspalastes kam es zu heftigen Wortwechseln . Die Opportunisten warfen den Radikalen die überaus heftige Sprache ihrer Blätter gegen Ferry vor . Der Verbrecher hatte mittelst ciner Karte von Herve , dem Direktor des orleanistischen Blattes „ Soleil , nach Ferry verlangt und darauf geschrieben : „ Ich habe an Ferry eine Mittheilung zu machen . Um diese Karte zu lesen , dreht « sich Ferry etwas auf die Seite , fönst würde er alle drei Kugeln in die volle Brust bekommen haben . — Sadi Carnot wird zu Weihnachten ein großes Fest im Elyfee geben . Sein Vorgänger wird befchuldigt , mit feinem Begnadigungsrecht Mißbrauch getrieben zu hoben unb wird fich nun wahrscheinlich vor bem Unterfuchungsausfchuh darüber zu verant » worten haben . Er foll einem Touloufer Bankier bie über ihn verbängte Strafe erlassen haben .

— Als Kuriofum verdient notirt zu werden , daß bel Bildung des neuen Ministeriums auch bie Rede davon war , Freycinet zum Kiiegsminifter zu ernennen und ihm dcn General Boulanger als Generalftabs chef beizugeben .

Oesterreich . In einer großen katholischen Versammlung zu Wien , welcher auch der päpstlich Nuntius Galimberti beiwohnte , kam es zu zahlreichen Kundgebungen zu Gunsten der weltlichen Macht des Papstes . Hlußland . Der Zar hat den General Baranoff , welcher vor Monaten den französifchen PatriotenHäuptling Deroulede in einer Rede feierte , deshalb gerüffelt . Deroulede hat Pech . Von allen Seiten verfolgt man ihn mit Tadel . Selbst seine getreuen Liguisten billigen sein Treiben nicht . Er hat deshalb die Präsidentschaft der Liga niedergelegt . Amerika . Der Anarchist Johann Most wurde zu zwölf Monaten Gefängniß verurtheilt . Er hat appellilt . Inzwifchen ist er gegen eine Kaution von 5000 Dollars in Freiheit gefetzt .

— Präsident Cleveland hat mit seiner freihänd « lerlfchen Botfchaft die Tchutzzöllner in der demokratischen Partei verschnupft . Darüber lriumphiren die Republikaner und hoffen fchon auf einen Sieg bei der nächsten Präsidentenwahl .

Ueber Toleranz . ( Aus dem Vortrag von Frl . Dr . M . v . Salis . ) Die Vortragende will die religiöse Toleranz gar nicht ins Auge fassen , 1 . weil der Strenggläubige sie aus Gründen der Logik nicht besitzen darf , wenn schon er sie aus unlogischen Gründen ( persönliche Sympathie , Güte : c . ) zuweilen faktisch besitzt , 2 . weil der sogen . Freidenker sie thatsächlich selten übt , vielleicht au « Gründen des Charakters und weil e r sie üben sollte und 8 . weil die Einzelnen der Konfessionen und Nichtkonftssionen im staatlichen , geselligen und häuslichen Leben nur ausnahmsweise religiös bestimmt erscheinen . Tolerant sein heißt für die Wehrzahl verzeihen , damit ihnen verziehen werde , überseht ,,, damit ihne . i nachgesehen werde , mild richten , auf daß sie mild beurthcttt weiden . Dicse Arl der Tol-ranz — bie Toleranz dcr Schwäche — liegt ebenso sehr außerhalb meines Rahmens , als die religiöse . Sic zu empfehlen ist angesichts ihrer Häufigkeil nicht nöthig . Warum ich endlich auch das entgegengesetzte Ex . rem — da ? wlls ich Toleranz dcr Stärke nenne — nichl in Betracht z iehe , das lieg ! lcidcr nahe genug . Diefe « rt der Toleranz ist so selten , ist so absolut nur Sache der gewaltigsten Intelligenz :,,, dcr grüßten Liebe und höchsten Erkenntnitz , daß sie in jedem Zeitalter von verschwindend Wenigen geübt melden kann und geübt wird . Das Ziel der Toleranz ist , kurz gesagt , der Nutzen von

Empfangenden und Spendenden , freilich kein Krämcrnutzen mit bestimmten Prozenten . Gr fällt nicht zusammen mit d « r gegenseitigen Waschung dcr Hände , die meistens mit einer gegenseitigen Beschmutzung identisch ist . Gr bedeutet vielmehr Forderung dcs Glücks , der intellektuellen Schönheit , des Scharfblicks der Gerechtigkeit . Das Wesen der Toleranz aber ist ein zwiefaches . Es besteht einerseits in weitherziger Mild : gegen unter uns Stehendes , Iurückgebliebenci , Ucberwur . dcn-s , Uktclworfenes . demnach iu ciner Denk- und Handlungsweise , dic den Empfänger in seinen eigenen Augen zu hebcn angethan ist . Anderseits ist sie zuwartende , verirauensvollc und ehrerbietige Bewilllommnuug dcs höher Gearteten , Unerreichten , oft Unverständlichen , also auf einer bedeutend höheren Stufe das « equiualent für die Toleranz der Schwäche , die dem Geber noch heilsamer ist , als dem Empfänger . Die Toleranz in ihrer ersten Gestalt käme zu gute : früheren Zeitaltern und Menschen , so weit sie durch dns unselige und uns übertroffen sind ; Entwicklungsstufen und Menschen der Gegenwart , die hinter unseren Erreichungen und Existenzmoden zurückgeblieben sind ; dcn Talenten , welche an Begabung uns überragend , persönliche Würde und Unabhängigkeit dem Erfolg , der Mode oder dcm Reichihum zum Opfer bringen , - den Reichen , deren Besitz die Grenze vernünftiger Hi » llnos ( Wohlstand ) überschreitet : dcn Verbitterten , Hassern , Zeloten , kurz n « Ucbermllß Er » krankten : den Parteimenschc ,, aus Verblendung .

Die zweite Erschemungsart der Toleranz , die , welche Dem , an welchem sie zum Ausdruck kommt , doppelt zum Gewinn wird , weil sie ihm sein Objelt verständlicher zu machen geeignet ist und zugleich unter Umständen dieses befähigt , seinen Weg unbehinderter zu verfolgen — in diesem Sinne auch der Nutzen des Objekts — beträfe : Frühere Zeiialter und Menschen , soweit sie das unselige und uns übertreffen ; jetzt lebende Völker und Individuen , die im Ganzen oder in einzelnen Zügen ein « hoher « Entwicklung erreicht haben ; den Genius ( dcs Gedankens ) und alle selbständigen Talente ; die Frauen , welche mehr Freiheit , weil höhere Pflichten , wil cine besscl « Kultur , an » stieben ; alle ausgesprochenen Individualitäten ; dcn Genius der That , als z . Timur , Napoleon I . Auszuschließen von aller und jeder Toleranz wünsche ich

einzig das Gemeine , unter welcher Bezeichnung ich zusllmmenfllss : den Hochmuth auf Besitz , jede Käuflichkeit um maiericllcn Genusses willen , also in elfter Linie die Ehe ü . tout prix , wenn mit Bewußtsein eingegangen , Heuchelei , Ve . lllth , Faulheit , Großmut ! , aus ander « Leute Tasche , Neid auf die Tüchtigkeit . Gegen ihre Vertreter sähe ich mit Ve , gnüg « n alle Peitschenhiebe der sozialen Unduldsamkeit , Hohn und Spott in Thätigkeit gesttzt , gleichviel weß Stand s , Geschlecht : » und Berufes sie seien . ( Schluß folgt . )

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